Linie spüren, Licht atmen
Zu den neuen Zeichnungen von Beate Herdtle
Die
in den Jahren 2021 und 2022 entstandenen großformatigen Handzeichnungen von
Beate Herdtle verbinden auf erstaunliche Weise Einflüsse heterogener Erinnerungsspeicher
mit einem intuitiv fortschreitenden Linienfluss in Farbe organisch miteinander.
Im Gegensatz zu den mehr oder weniger isolierten pflanzlichen Erscheinungen –
Blatt, Blüte, Frucht – oder einzelnen deutlich erkennbaren geomorphologischen
Phänomenen wie Gewässer- oder Gebirgsformationen, die die Malereien der
Künstlerin in der Vergangenheit geprägt haben, tritt nun eine paradoxe Wirkung
zu Tage. Vielverschichtete Gespinste aus Bleistift, Farbstiften und Kreiden
breiten sich auf den ersten Blick hin in einem vermeintlich informellen All
Over über das gesamte Papierformat aus und machen mitunter den selbständigen
Strich im impulsiv hingeworfenen Linientumult ganz verschwinden. Die
Darstellungsränder bei anderen Blättern aber teilweise unbearbeitet oder das
Büttenweiß aus dem hinteren Bildgrund nach vorn zum Leuchten gebracht, muten
die Zeichnungsfolgen dennoch insgesamt „lichter“ – in einer poetischen Weise
„leichter“ formuliert – an. Diese Entwicklung lässt sich auch in gleichzeitig
entstandenen Malereien beobachten und nicht umsonst werden von ihr Bildtitel
wie etwa Breething Light o.ä. vermerkt.
Mit
der Zeit erst einmal eingelesen in diese wild chaotischen Farbliniendschungel von
Beate Herdtle manifestieren sich allerdings sehr wohl aus dem vorgeblich so Gegenstandslosen
wieder die Dinge der Alltagsumgebung oder kulturgeschichtlich geprägter Mythen
von der klassischen Antike bis in die Gegenwart. Vergleichbar mit früheren
Malereien kreisen nämlich auch in diesen Zeichnungen die wie in einer Art eines
komplexen Vexierspiels eingefügten Wesen und Unwesen um die Befähigung des
Schwebens und Fliegens, schwereloser Zustände in unmittelbarem wie im übertragenen
Sinn, die im persönlichen Erleben der Künstlerin begründet sind. Doch sind deren
Verwandlungen wunderlicher als gedacht: Blumenbekränzte weibliche Figuren und
pinguinähnliche Gestalten geben sich da ein geheimes Stelldichein.
Spatzenartige Vogelabbreviaturen konkurrieren in ein und derselben Arena mit kunsthistorisch
handelsüblichen Friedenstauben, deren sinnstiftender Olivenzweig inzwischen schon
reichlich massakriert – und damit durch und durch zeitgemäß – erscheint. Antikes
Drama, Comic Strip, Fake Reality, künstliche Intelligenz – und wir als zarte
Stricheleien fast orientierungslos mittendrin. Am unteren Bildrand mag verhalten
noch ein romantisch gedachtes Meeresgestade anbranden, vielleicht aber bleibt nur
ein betulicherer Tümpel als müder Abklatsch vorapokalyptischer Ideen. Über kirchnerischem
Getann buhlen währenddessen topografisch vertraut wirkende Alpengipfel (der
olympische Bruder Säntis samt seinen Artgenossen) mit geometrischen
Zackenvisionen, wer denn nun in dieser Runde – zwischen sichtbarer Wirklichkeit,
freimütiger Erfindung oder lustvoll kreischend im immerfort rotierenden Kettenkarussell
der Kunstgeschichte – als majestätisch erhaben oder doch bloß pittoresk zu
gelten vermag.
In
vielen Arbeiten von Beate Herdtle begegnete der sie Betrachtende immer schon jener
intensiven Auseinandersetzung mit ursprünglich belassener Naturlandschaft,
sowohl der in heimisch erreichbarer Nähe gesehenen als auch der auf exotischen
Expeditionen erfahrenen, die sich unmittelbar auf die Reisetätigkeiten der Künstlerin
beziehen. Beim stündlich wiederkehrenden, meist hektikbeladenen Überflug über
die Dinge des Alltags genauso wie in den selteneren Momenten tatsächlich
aviatischer Erhebungen müssen uns – trotz und gerade im Angesicht der
faszinierenden Schönheit entsprechender Naturlandschaften – stets zwangsläufig
Zweifel an unserem eigenen Tun befallen. Wie nur lassen sich auf kontinuierliche
ökonomische Effizienz ausgerichtete Strategien, die zunehmende Zerstörung der
Umwelt die und unwiederbringliche Vernichtung von Lebens- und Arbeitsräumen mit
dem Erhalt ebendieser Natur, von Tier- und Menschenwelt vereinbaren, The Big
Bang oder noch weitere Bigger Bangs?
Exemplarische
Abbilder dieser Ambivalenz spiegeln sich in der Vorstellungswelt von Beate
Herdtle wider. Ihre Natur ist von vielen verschiedenen Naturen besiedelt. Das
Fliegen und viele verschiedene Flügel tummeln sich darin, allerhand Vögel und abscheuliche
Vogelscheuchen als deren Kontrahenten, Helden und Heilige ebenso wie aus der
Art geschlagene Monster und Gespenster, sanfte Engelsgestalten hier und
teuflische Fratzen dort, als säßen wir selbst unentschieden frohgemut beim
Jüngsten Gericht beisammen. Wer wollte da nicht einmal mehr eine fassbare Linie
erspüren und künftig Licht, mehr Licht einatmen wollen?
Clemens
Ottnad